„Das Mutigste, was ich je getan habe, war weiterzuleben, als ich sterben wollte.“
– Different Mom
Inhaltlich wird die Depression in der Existenzanalyse als eine anhaltende Störung des Lebensbezugs verstanden. Die phänomenologische Sicht der Existenzanalyse beschreibt das Leiden der Depression darin, dass der Wert, den das Leben hat, nicht gehoben und gelebt werden kann. Diese Trennung der Person vom erwärmenden, kräftigenden, bewegenden Lebenswert ist verbunden mit mangelhaften Beziehungen zu Werten. Schutzreaktionen (Copingreaktionen) wie Rückzugs- oder Leistungsverhalten setzen ein. Halten die Gefühle von Lebensmangel oder Lebensverlust an, so fixieren sich diese Schutzreaktionen: Es bildet sich die depressive Störung aus.
Voraussetzungen um an keiner Depression zu erkranken
• Beziehungen 🤍
Gute Beziehungen fördern das Leben, belastende Beziehungen können in eine Depression führen
• Zeit ⏱️
schafft Wirkbasis, dass sich Wert ausbreiten kann -> verweilen wichtig, bei Zeitmangel/unter
Zeitdruck geht unser Lebensgefühl verloren -> wir spüren uns und anderen nicht mehr
• Nähe 🫂
Wirkung enfaltet ihre vitale Kraft -> volle Gefühlsqualität, Leben wird emotional und leidenschaftlich,
wenn Nähe/Zuwendung fehlt (z.B. wenn ich nicht toleriert werde, unerwünscht bin, mich anpasse),
wird Vitalität behindert -> dies kann zu einem Erleben des Lebens als „Unwert“ führen
• In der Depression geht der Kontakt zum Dasein – zur inneren Welt sowie äußeren Welt – verloren.
• Depression ist also eine Unterbrechung des Dialoges.
• Werte bleiben unerreichbar. Werte werden gedacht, aber nicht gespürt. Das Leben wird kraftlos.
• Der depressive Mensch ist sich der Diskrepanz, dass das Leben lebenswert sein kann und seinem derzeitigen Empfinden, es sei nicht lebenswert bewusst -> Dynamik, durch Leisten wieder das Gefühl von „lebenswert“ zu erreichen
• Depression gründet in einem Mangel an subjektiv erlebten Werten
• Wenn Werte fehlen, verloren gehen, zerstört werden
Entstehungsfaktoren/ Äthiopathogenese

Genet. Prädisposition
• Befunde von Zwillings- Adoptionsstudien
• Z.B. Bipolare Störung:
Erkrankungswahrscheinlichkeit 20% wenn ein Elternteil betroffen; 50-60% wenn bei Elternteile betroffen
• Unipolare Depression:
Erkrankungswahrscheinlichkeit 10% wenn ein Elternteil betroffen
Endogene bzw. neurobiolog. Faktoren
• Störungen der
Neurotransmitterübertragung
(Serotonin, Noradrenalin, Dopamin) ->
Dysbalance mehrerer interagierdner
Neurotransmittersysteme
• Endokrine Dysbalance
• Schilddrüsenunterfunktion
• Klimakterium
• Störung des chronobiologischen
Rhythmus
• Saisonale Depression („Winterschlaf“)
Persönlichkeitsfaktoren
• Typus Melancholicus
• angeborene Neigung zu depressiven
Verstimmungen
• übernehmen viel Verantwortung, haben viele Sorgen, (ev. Vitalitätsmangel)
Somatische Faktoren
• Aneurysma
• Tumorerkrankungen (z.B. Pankreaskarzinom)
• Multiple Sklerose
• AIDS (somatisch und reaktiv)
• Alkoholabhängigkeit
• Medikamente (z.B. Malaria-Medikament
Lariam)
• Vitamin B12-Mangel…
Entwicklungsfaktoren
• Biographische Faktoren: Life Events
• EA: Mangelgenese, Traumagenese
Reaktive Faktoren
• akute Belastungen/Lebensveränderungen
• leicht bis schwer
• Schulabschluss
• Scheidung
• Tod eines nahen Verwandten
• chronische Belastungen
• leicht bis schwer
• Arbeitsunzufriedenheit
• Chronische Erkrankung
• fortwährender sexueller Missbrauch
Leben ist sich beziehen zu dem, was ist
Leben ist eine Grundbedingung der Existenz. In psychologisch-geistiger Hinsicht sehen wir das Wesen des Lebens in der Fähigkeit, die Beziehung zum Dasein aufzunehmen und zu erhalten. Diese Fähigkeit scheint uns auf drei Charakteristika des Lebens zu beruhen: Austausch, Wechsel und vitale Kraft. Diese Charakteristika brauchen Voraussetzungen, um realisiert werden zu können:
1. Damit Austausch möglich wird, braucht es Kontakt und ein erstes Akzeptieren: man selbst wie auch der andere (das andere) muss diesen Kontakt (zumindest vorübergehend) gewähren und dafür offen sein. Das schafft die Basis der Beziehung, nämlich jene Verbindung, jene Brücke, über die der Austausch stattfinden kann. Damit entsteht durch die Offenheit im Kontakt die Basis des Werterlebens. Sobald Beziehung da ist, geht es nicht mehr nur um einen selbst. Der offene Kontakt, der zum Austausch und damit zur Beziehung führt, stellt die Infrastruktur des Lebens dar.
2. Die Voraussetzung für den Wechsel und für die Veränderung ist die Zeit. Damit der Austausch eine Wirkung entfalten kann und uns in seine Schwingung mitnimmt, braucht es Zeit. Zeit ist bestimmend für das Leben. Sie wird sichtbar im Leben an seinem Wachsen und Vergehen, durch sein Pulsieren, wie wir es am „Schrittmacher des Lebens“, am Herzen erleben. Zeit gibt dem Leben seinen Rahmen. Sie ist die formale Bestimmung des Lebens.
3. Durch das Zulassen und durch das Aufnehmen der Wirkung in sich selbst entsteht eine weitere Voraussetzung für die Entfaltung von Leben: Nähe. Im Herankommen bzw. Hereinnehmen der Wirkung erscheint ihre Kraft bzw. erhält sie ihre Kraft. Durch Nähe erhält unser Leben seine volle Gefühlsqualität. Durch das auf sich Beziehen und auf sich wirken Lassen werden die Dinge zu Werten. Durch die Nähe kommen wir also an die Quelle der Werte und an die Lust des Lebens.
Austausch, der auf das eigene Dasein bezogen ist (also nicht nur kognitiv, sondern ganzheitlich mit Leib und Seele), führt zu dem, was wir im Deutschen so treffend als „Er-leben“ bezeichnen. Erleben von Dasein führt aber nicht nur zu (Lebens-)Freude, sondern auch zu Leid. Es enthält sowohl Befriedigung wie Unerfüllt sein, Sehnsucht wie Enttäuschung. Erlebender Austausch mit dem Dasein in der Welt ist emotional, wird durch die Nähe zu einem leidenschaftlichen Beteiligtsein am Dasein in eben diesem doppelten Sinn des Wortes „Leidenschaft“. Die Existenzanalyse erweitert das psychoanalytische Konzept hier also auf andere Lebensbezüge hin wie Beziehung, Zeit und Werte.
Ein typisches depressives Verhaltensmuster ist z.B. das Festhalten an Normen, Wünschen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Träumen, Vorgaben. Sie dienen als Wertersatz, erzeugen aber Druck, fördern durch ihre Ansprüche die Resignation und machen das Verhalten rigide. Außerdem macht die Fixierung in der Wunschhaltung passiv, ohnmächtig, hilflos.
Ein anderes typisches depressives Verhaltensmuster ist das sich Vergleichen mit anderen, um die Unsicherheit des eigenen Wertes bzw. des Wertes des eigenen Lebens zu überbrücken. Aber auch der beste Vergleich mit anderen kann nichts über den Wert des eigenen Lebens aussagen. Auch hier führt das depressive Ersatzverhalten weiter in die Depression, weil es nicht an der Wurzel ansetzt.
Die 3 Depressionstypen
1. Depression als Schutzreaktion auf ein Defizitleben: „Lebensdepression“
2. Depression als psychogene Entwicklung einer Gefühlsblockade: „Beziehungsdepression“
3. Depression als endogener Vitalitätsmangel: „endogene Depression“

„Lebensdepression“
Depression kann als Reaktion auf ein Defizit an Werten entstehen. Die Depression entwickelt sich dann wie eine Mangelerkrankung. Unverarbeitete Verluste oder anhaltende Mangelzustände von fehlenden oder ständig vermissten Werten lassen das Gefühl entstehen, im Leben zu kurz gekommen zu sein.
- Kindheit: Zuwendung haben immer gefehlt. (Eltern, wichtige Bezugspersonen)
- Anhaltender Mangel an Werten: Lebensträume und Lebensziele wurden nie erreicht (z.B. partnerschaftliche Liebe, Gesundheit, minimaler Lebensstandard in Sicherheit vor Not).
- Verluste von Werten, die man schon hatte: z.B. früher Tod oder Trennung von nahen Bezugspersonen, Aufwachsen ohne feste Bezugsperson (Heimkinder), behindernde Krankheiten (wie z.B. Lähmung durch Schlaganfall).
Wenn man von diesen Werten getrennt wird, ehe man an ihnen ausreichend gewachsen ist, sich an ihnen „satt gelebt hat“, dann kann sich auch hier das Gefühl entwickeln, dass man sich emotional „durch das Leben gehungert“ hat. Welche Botschaft erhält man durch solche Erfahrungen vom Leben? – Man hat von einem Leben Kenntnis bekommen, das sagt, dass es gut sein könnte, aber es mit einem selbst nicht gut meint. Es findet sich kein Weg, wie an die wärmenden, sättigenden Werte des Lebens heranzukommen wäre.
Psychodynamische Reaktionen: Neid auf andere Menschen, die vom Leben nicht so benachteiligt wurden, oder Wut aufs Leben bzw. auf Gott.

„Beziehungsdepression“
Subjektiv erlebtes Wertedefizit kann auch dann entstehen, wenn man von Wertmöglichkeiten umgeben ist, aber in der Wertewahrnehmung blockiert ist. Das ist dann der Fall, wenn man aufgrund von Verletzungen einen seelischen Schutzpanzer errichtet hat, um weiteren Verletzungen zu entgehen. Schmerz, der im Zusammenhang mit Werterleben (z.B. strafender Liebesentzug durch Menschen, die man liebt) steht, führt rasch zu Überforderungen. Durch die Offenheit im Wertbezug trifft die Verletzung umso tiefer. Wenn man zu viel erlitten hat – bei bestehenden Unterschieden in der Sensibilität für Leiden kommt es zur Ausbildung von Abwehrreaktionen und Abstumpfungen, unter denen die Sensitivität für Wertempfindungen leidet. Werterleben tut dann entweder weh oder berührt nicht mehr. Damit geht auch der den Grundwert nährende Austausch mit Wertempfindungen verloren. Die Entwicklung der Depression weist auf diesen bedrohlichen Mangelzustand hin. Das Gemeinsame in dieser Gruppe von Depressionen ist der verletzende Charakter der Ausgangssituation. Dies kann praktisch nur in bestehenden Beziehungen geschehen:
- Traumata wie Missbrauch, Gewalt, verstoßen werden (z.B. Abweisung durch Enterbung);
- durch vorenthaltene Beziehungen wie wiederholter, strafender Liebesentzug,
- Verweigerung von Körperkontakt und Zärtlichkeit dem Kind gegenüber,
- Ablehnung und Zurücksetzung gegenüber Geschwistern
Das vorherrschende Lebensgefühl ist, dass das Leben nicht gut ist, weil die Menschen nicht gut sind. Gefühllosigkeit aufgrund zahlreicher enttäuschender Verletzungen erzeugt Gefühl, nicht dazuzugehören. Löst sich die Apathie und Resignation z.B. im Rahmender Therapie auf, entsteht mit dem Schmerz häufig viel Wut auf andere Menschen, die einem das angetan haben.

„Endogene Depression“
Eine weitere Ursache bedrohlichen subjektiven Wertemangels kann im Subjekt selbst liegen. In dem Falle ist es weder ein äußerer Mangel, noch sind es von außen kommende Verletzungen, sondern ein Mangel an innerer Kraft, an die Werte heranzukommen und sich an ihnen zu freuen. Wegen der inneren Verursachung kann man sie als „endogene Depression“ bezeichnen (ohne damit ausschließlich auf eine genetische Veranlagung rekurrieren zu wollen – der Kräfteverlust kann durchaus auch psychogen entstehen z.B. durch anhaltenden psychischen Stress bei unbewältigten Konflikten).
Die Vitalität ist blockiert, versiegt immer wieder, auch grundlos, oder ist konstitutionell vermindert. Das Gemeinsame dieser Gruppe ist, dass man sich zu schwach fühlt, um wirklich am Leben Anteil nehmen zu können. Es ist Leben auf Sparflamme, Leben in reduziertem Zustand, wie es von depressiven Persönlichkeitsstörungen bzw. bei der Melancholie (Tellenbach 1983) gekannt wird Lebensformen, die die Zurückgezogenheit und Stille bevorzugen. Auch die zyklischen (klassische „endogene“) Depressionen oder körperliche Depressionen sind hier dazuzuzählen. Das Lebensgefühl ist schwer; man fühlt sich belastet, sieht sich selbst als Ursache des Lebensdefizits an, fühlt sich schnell als Versager, ist gewohnt, bei allem Defizitären sich als Ursache zu sehen, hat ständig Schuldgefühle.
Das Erleben als Grundlage genommen könnte man diese Depression auch als „Versagensdepression“ bezeichnen.
Psychodynamische Reaktionen: Autoaggression, Selbstbeschuldigung und Selbstentwertung.
Haben Depressionen irgendeinen Sinn?
Laut Alfried Längle ist die Störung der „Grundbeziehung zum Leben“ deshalb existentiell bedeutsam, weil damit eine Gefahr fürs Dasein verbunden ist: Die Gefahr, den Lebenswert nicht zu finden, wenn das Leben in der bisherigen Art fortgeführt wird. „Die Depression warnt somit eigentlich vor einer Lebensgefahr! Ein Leben ohne Lebenswert wäre ein noch größerer Verlust, wenn wir unbemerkt am Lebenswerten vorbeigelebt hätten und den Mangel nicht einmal gefühlt hätten.“
Unter einem existentiellen Gesichtspunkt ist die Depression aber nicht einfach eine „Störung“ oder „Krankheit“. Die Diagnose „Depression“ erfasst daher auch nur die vordergründige, funktionale Hälfte des komplexen Geschehens. Existentiell gesehen hat die Depression den großen Wert, ja vielleicht den Sinn, uns davon abzuhalten, in der gleichen Art und unter den gleichen Umständen weiterzuleben wie bisher. Wir können die Depression als Aufforderung verstehen, befrachtet durch das Gewicht des Leides, alles daran zu setzen, die Umstände zu ändern, vielleicht die Einstellungen und Haltungen, und vielleicht in Beziehung zu anderen zu treten und mit Hilfe anderer Menschen daran zu arbeiten. Denn wir schaffen es nicht immer alleine. Die Depression drängt uns, uns dem, was ist, und insbesondere dem Leben neu, vermehrt zuzuwenden, alles Gewesene „einzuklammern“ und mit einer neuen, phänomenologischen Offenheit auf es zuzugehen. Denn letztlich geht es doch darum: die Liebe zum Leben gelebt zu haben; um dereinst nicht sterben zu müssen, ohne vom Wert des Lebens berührt worden zu sein.
(Quelle: Längle A, Funke G (Hg) (1987) Mut und Schwermut. Existenzanalyse der Depression. Tagungsbericht der GLE 3, 2 (von 1987). Wien: GLE-Verlag, URL: chrome-extension://efaidnbmnnnibpcajpcglclefindmkaj/https://laengle.info/userfile/doc/Depression-Bern-EA-2-2004.pdf)